Die internationale Geschichte der Psychotherapie der Schizo-phrenie ist eng verbunden mit der Gründung der ISPS im Jahre 1956 in Lausanne (Schweiz)
durch Christian Müller und Gaetano Benedetti.
Dieser Verein hat sich in den mehr als fünfzig Jahren in überaus fruchtbarer Weise entwickelt, dies dank der Offenheit und des klinischen Verständnisses der Pioniere, die an den ersten Kongressen 1954-1964 erstaunliche Austauschgespräche zustande brachten: zwischen Ludwig Binswanger (Schweiz), Marguerite Séchehaye (Schweiz), Paul-Claude Racamier (Frankreich), Silvano Arieti (USA), Martti Siirala (Finnland), Herbert Rosenfeld (England), Evelyne Kestemberg (Frankreich), Helm Stierlin (Deutschland) und Mara Selvini (Italien). An diesen Kongressen kommt es zu intensiven Diskussionen zwischen Phänomenologen, Psychoanalytikern (Kleinianer, Objekt-Beziehung), Systemikern und Gruppentherapeuten. Im Zentrum all dieser Arbeiten steht die Offenheit für den Sinn der verbalen Aeusserungen und Verhaltensweisen der psychotischen Patienten. Dabei geht es nicht nur darum, deren Sinn an sich zu entschlüsseln, sondern auch deren subjektiven Wert und deren Bedeutung als Botschaft an die Umgebung zu erkennen. Diese allzu oft vernachlässigte Botschaft ruft nach einer Antwort des Therapeuten. Mit dem Aufschwung der psychoanalytischen und systemischen Therapien begannen die Therapeuten, sich mit psychotherapeutischen Behandlungen zu befassen und verschiedene Techniken anzubieten (z.B. Konzept der symbolische Realisierung durch M. Sechehaye, oder Familien-Gegenparadoxon bei M. Selvini,…). Gleichzeitig erkennt man die Wichtigkeit der Arbeit in der Gruppe, Man entwickelt klare Vorstellungen der notwendigen Eigenschaften für ein therapeutisches Umfeld und sieht die Dringlichkeit einer sozialen Rehabilitation.
Die ISPS – internationale Gesellschaft für die psychologische Behandlung der Schizophrenie und anderer Psychosen – ist heute ein weltumspannendes Netz, das an wechselnden Orten sowohl Therapeuten psychotischer Patienten als auch Patientenvereinigungen zu Kongressen zusammenbringt (letzter Kongress Kopenhagen 2009).
Geschichte des ISPS-CH – Präsentation
Bedeutung des psychotherapeutischen Ansatzes heute
Die Schizophrenie hat einen komplexen biopsychosozialen Ursprung, und ihre Behandlung ist ebenso komplex, sowohl hinsichtlich der therapeutischen Antworten als auch der wissenschaftlichen Forschungswege. Die therapeutischen Ideologien (psychoanalytisch, systemisch, in Gruppen) der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden überwiegend abgelöst vom Weg der biologischen Erklärung. Leider ging diese Wende oft einher mit einem Verlust des Interesses für die Person des Patienten und mit einer neuroleptischen Überdosierung, die ein Abflachen und Verblassen der an Psychose leidenden Person zur Folge hat. Allerdings beharren in den ISPS-Symposien anwesende Patienten, die ihr Ichbewusstsein wiedergewonnen haben, auf einer Verlagerung der Psychosetherapien in Richtung Psychotherapie. Die Schilderung der psychotischen Erfahrungen durch die wiederhergestellten Patienten und ihre Berichte über ihre Behandlungswege zeigen die grosse Bedeutung der Beziehungsarbeit auf und das Drama der psychotischen Falle, die der Person vorübergehend ihre Selbstbehauptungsfähigkeiten raubt. Die Notwendigkeit einer psychotherapeutischen Einstellung, welche die Person des Patienten respektiert, wird im Rahmen der ISPS-Kongresse immer wieder hervorgehoben.
Die bei der Neurose so fruchtbare Einzeltherapie löst bei der psychotischen Krankheit massive Ängste der Intrusion und der Auflösung der Person aus. Diese Schwierigkeit verlangt eine besondere Anpassung des Therapeuten, nämlich als «Positivspiegel» (Gaetano Benedetti) und als subtiles «Mit-Wesen», das jedoch eine Beziehungsdistanz wahrt, die sich den Behandlungsetappen anpasst. Die individuelle Begegnung erfolgt über die innere Komplexität des Patienten, sein widersprüchliches Erleben, den Wahrheitsanteil des Wahninhaltes und die lange zeitliche Dauer der Prozesse. Bei dieser unerlässlichen psychotherapeutischen Arbeit versucht man heute, die therapeutische Isolierung und die Falle einer vermeintlichen Allmacht der Einzelbeziehung zu vermeiden. Die Transferszene wächst über die ärztliche Praxis hinaus und entfaltet sich zu einer Familien-, Spital-, Institutions- und Gesellschaftsbühne. Paul-Claude Racamier hat den Übergang der inneren Verweigerung zur Verweigerung in der Beziehung theoretisch beschrieben: Die Psychose lässt sich somit nur aufgrund des auf das Umfeld projizierten Erlebten verstehen und erfordert ein behandelndes Team, das Wiederholungen zu entschlüsseln versteht. Die Berücksichtigung des Gegen-Transfers, und das Versagen des Modells der therapeutischen Regression, rufen nach Offenheit für komplexe Behandlungen (Familie-Milieu-Einzelperson-Medikation).
Vom kausalen Standpunkt aus gesehen hat das 1977 anerkannte Stressvulnerabilitätsmodell von Zubin und Spring den Begriff der erblichen Prädisposition und der Interaktion mit dem Umfeld übernommen. Angesichts des Erfolgs dieses Modells sah sich die wissenschaftliche Forschung veranlasst, die Bedeutung der Umweltfaktoren und der Wechselfälle des Lebens neu zu überdenken. John Read in Neuseeland, Paul Lysaker in den Vereinigten Staaten und die holländischen Teams haben bei Patienten, die eine Psychose entwickeln, eine hohe Inzidenz schwerer Traumata und eine Korrelation zwischen der Schwere des Traumas und den psychotischen Symptomen nachgewiesen. Françoise Davoine und Jean-Max Gaudillière in Frankreich zeigen anhand ihrer klinischen Arbeit die Bedeutung generationen-übergreifender Traumata bei der Entstehung der Psychose auf (Davoine und Gaudillière 2006). Die Häufigkeit sexueller Missbräuche und der frühe Konsum von Cannabis sind Vorzeichen für das Auftreten psychotischer Störungen (Shevlin et al. 2009). Heute müssen wir diese Parameter in unsere Pflege- und Präventionsprogramme integrieren.
Das Gebiet der Psychotherapie der Psychose – früher noch ein Feld theoretischer Rivalitäten – hat sich der Komplexität und der Komplementarität der therapeutischen Ansätze geöffnet. Heute ist bei der psychologischen Behandlung eines schizophrenen Patienten der Einsatz eines multidisziplinären Teams die Regel. Man muss seine soziale Situation erfassen, seine Marginalisierung verhindern, seine Rolle in der Familie verstehen und ihm helfen, sich unmöglichem Loyalitätsverhalten zu entziehen, und seinen Schwierigkeiten, ein Ziel zu verfolgen, zu begegnen, sowie ihm helfen, auf weniger paranoide Art und Weise mit seinen Wahrnehmungen umzugehen. Die Herausforderung der psychologischen Behandlung der Psychose besteht darin, dieser Komplexität zu begegnen und auf sie einzuwirken.
Die ISPS und ihre Entwicklung: Eine Antwort auf die Komplexität des Bereichs der psychologischen Behandlungen von Psychosen
Die ISPS-Kongresse haben die Entwicklung in Richtung einer Behandlung auf mehreren Niveaus mitverfolgt, angefangen beim Projekt der Gründer Christian Müller und Gaetano Benedetti im Jahr 1956, welche die wichtigsten Akteure und Theoretiker zum gemeinsamen Austausch zusammen brachten. Gestützt auf die positiven Ergebnisse der Langzeitforschungen von Ciompi und Müller sollte bei der Behandlung schizophrener Patienten eine von Hoffnung geprägte Haltung die behandelnden Teams begleiten. Die offene Konfrontation der Behandlungsprogramme mit ihren theoretischen Grundlagen geht bei der ISPS ungehindert vor sich, denn der klinische Standpunkt überwiegt die frühere Verhaftung in Modellen.
Die ersten Kongresse wurden in Lausanne, Zurich, Turku, Oslo, New Haven, und Turin abgehalten, anschliessend:
Stockholm 1991 : Ideologische Debatte zwischen psychoana¬lytisch und kognitivistisch ausgerichteten Therapeuten. Courtenay Harding präsentiert die Ergebnisse der longitudinalen Studie von Vermont (USA), in der die langfristige Verbesserung des Zustandes der Patienten aufgezeigt wird (Harding 1987). Beginnendes Interesse für den Selbstheilungsprozess.
Washington 1994 : Präsentation des Need-adapted Treatment durch Yrjö Alanen (Finnland) und Beschreibung der Behandlung anhand therapeutischer Sitzungen mit dem Patienten und seinem Umfeld (Alanen 1997). Luc Ciompi präsentiert die Theorie der Beeinträchtigung des affektiv-logischen Funktionierens bei schizophrenen Patienten und schlägt ein psychosoziobiologisches Modell der therapeutischen Intervention vor (Ciompi 1997).
London 1997 : Beschreibung des Familien-Ansatzes und Wirkung der Regulierung der « Expressed emotions » durch Julian Leff (England). Das finnische Team stellt sein Modell für die Behandlung der ersten psychotischen Episode vor (Familien- und Gemeinschaftstherapie, begrenzter Einsatz von Neuroleptika).
Stavanger 2000 : Referat von Pat Mc Gorry (Australien), in dem die Wichtigkeit aufgezeigt wird, die Modalitäten der Behandlungen bei den verschiedenen Störungsetappen zu unterscheiden.
Melbourne 2003 : Anspruch des Einbezugs der verschiedenen biologischen und psychologischen Behandlungen. Beitrag wiederhergestellter Patienten. Präsentation der kognitiven Thera¬pien durch Richard Bentall (England).
Madrid 2006 : 50-jähriges Jubiläum der Gründung der ISPS, Erstellung von Statuten und Zielen, Entwicklung von Newsletter und Website isps.org.
Kopenhagen 2009 : Präsentation der den nordischen Länder: Ergänzung der Behandlungspläne durch Follow-up nach 5 Jahren. Publikationen der ISPS: ISPS Book Series: Herausgeber Brian Martindale (England). Lancierung der wissenschaftlichen Zeitschrift PSYCHOSIS: Herausgeber John Read (Neuseeland).
In der Schweiz organisiert die ISPS-CH (Schweizer Zweig der ISPS) seit 2007 jedes Jahr einen Kongress für an der Behandlung der Psychose beteiligte Therapeuten und Pflegedienstleistende, um die Arbeit der theoretischen und klinischen Öffnung weiterzuführen. 2007: Psychose und Trauma in Zusammenarbeit mit ISPS-US, 2008: Netz, Team und Psychotherapie, 2009: Wahn : Sinn und Bedeutung, 2010: Zeit und Psychosen, 2011: Emergenz der Psychose.
Die ISPS und nationale Projekte der Frühbehandlung der Schizophrenie
Die nordischen Länder haben sich in den Jahren 1980-1990 in nationalen Programmen frühzeitiger Behandlungen engagiert (NIPS-Nordic Investigation on Psychotherapy of Schizophrenia). Endre Ugelstad in Norwegen, Johan Cullberg in Schweden, Bent Rosenbaum in Dänemark und Yrjö Alanen in Finnland arbeiten zusammen, um Forschungsprotokolle und Programme zur Früherkennung und Intervention auszuarbeiten. Diese Arbeiten werden in den ISPS-Kongressen in der Vollversammlung und in Workshops präsentiert und vertreten. Unterdessen werden die Ergebnisse der Einführung der Früherkennung und Behandlung laufend publiziert.
Das ISPS-Projekt der kombinierten Behandlungen durch ausgebildete Teams
Seit Beginn der ISPS-Kongresse geht es um verschiedene Ebenen des Verständnisses und der Behandlung. Man kann sogar sagen, dass die Arbeit des allmählichen Einbezugs dieser Ebenen von einem Kongress zum anderen Fortschritte macht. Allerdings ist der Einbezug psychotherapeutischer Ansätze nicht gleich¬bedeutend mit einem Eklektizismus, der einer opportunistischen Anleihe an verschiedene Praktiken entspräche (Gleeson 2008).
Es geht vielmehr darum, dass ausgebildete und unter Supervision stehende Teams bekannte Behandlungen mit klar definierten psychotherapeutischen Zielen kombinieren: Stärkung des Selbst-bewusstseins, Klärung der Kommunikation, Unterstützung der Ressourcen der Person, Aufarbeitung der Traumata, Definition individueller Projekte.
– Mit diesem Konzept versucht man zwei wichtigen Herausforde-rungen bei der Behandlung von Psychosen zu begegnen: der psychosoziobiologischen Komplexität und der autistischen Abwehr in der Beziehung.
Wenn die Notwendigkeit eingesehen wird, ein therapeutisches Milieu mit einem reduzierten Beziehungsstress, einer angepassten neuroleptischen Medikation bei möglichst niedriger Dosierung und einer Beziehungstherapie, die auf Kontinuität, Zuverlässigkeit und der Krisenbewältigung beruht, zu verbinden, wäre der psychologische Ansatz bei der Psychose heute besser verständlich und wirksamer und würde jeder Etappe der Psychosebehandlung eine Option bieten. Die dogmatische Theorie spielte in der Vergangenheit die Praktiken gegeneinander aus und stellte sie dem psychoanalytischen, systemischen, kognitiven und Gruppen-Ansatz entgegen. Die heutigen therapeutischen Programme dagegen ordnen diese Dimensionen in eine logische Folge ein, zum Beispiel:
Das Netz (Pflegeperson, Familie, soziale Akteure) hat sich nicht nur als soziales Auffangnetz erwiesen, sondern auch als die beste Art, gegen die Mechanismen der autistischen Abwehr anzukämpfen, welche die Patienten marginalisieren.
Das Pflegeteam (Arzt, Psychologe, Pflegeperson) steht in der Begegnung mit dem Patienten an erster Stelle. Dank seiner Pluralität und Ausdauer kann das Pflegeteam mit der «Widersprüchlichkeit», den Spaltungen und Brüchen der Patienten besser umgehen.
Die individuelle Psychotherapie ist angepasster geworden und vor allem auf die Unterstützung der Person und die Förderung der Ich-Kräfte ausgerichtet. In der psychotherapeutischen Einzelkonsultation werden die Traumata als mögliche Ursachen und Folgen der psychotischen Störungen direkt angesprochen, dies aber immer im Rahmen der Arbeit im multidisziplinären Team. Der Transfer, Quelle neurotisch-psychotischer Missverständnisse, wird als archaischer, symbiotischer Transfer zugelassen, der sich auf den psychotherapeutischen Rahmen konzentriert und einen schwierig anzugehenden Gegen-Transfers mobilisiert (Söderström 2009).
Der Blickwinkel der ISPS ist in erster Linie auf die Person des Patienten, der an Schizophrenie oder Psychose leidet, ausgerichtet und betrachtet vor allem die einschränkenden Auswirkungen der Krankheit im Beziehungs-, Vorstellungs- und Gesellschaftsleben.
Fragen, die im Rahmen der ISPS gegenwärtig zur Debatte stehen:
- Was wissen wir über die Wirksamkeit der psychologischen Behandlungen? Ist die Art der Therapie oder die therapeutische Beziehung an sich ausschlaggebend ?
- Welche Bedeutung haben Begebenheiten im Leben für die Ätiologie der Psychosen ?
- Können wir das Auftreten von Psychosen in der Bevölkerung reduzieren ?
- Müssen wir jungen Patienten mit einer Psychose-Frühdiagnose neuroleptische Medikamente verschreiben ?
- Wie schätzen Personen, die an Psychose leiden, ihre Lebenserfahrung ein und was erwarten sie von den Gesundheitsdiensten ?
- Welche Wirkung auf die gegenwärtigen Behandlungen haben individuelle Berichte derer, die wiederhergestellt wurden und keine Krankheitszeichen mehr aufweisen ?
- Worin besteht die Auswirkung der sozialen Stigmatisierung psychotischer Störungen ?
Aus internationaler Sicht stellt man fest, dass die ihrerseits in ideologischen und politischen Positionen gefangene institutionelle Landschaft massgebend ist für das psychotherapeutische Angebot an psychotische Patienten. Fragen der Dauer der Kostenübernahme, der Teamorganisation oder der in Kolloquien und Supervisionen verbrachten Zeit sind massgeblich für das Potenzial unseres psychotherapeutischen Angebots. Das in Bezug auf theoretisch-klinische Kohärenz wahrscheinlich am weitesten fortgeschrittene finnische Modell der Früherkennung und Behandlung beginnender Psychosen beruht auf dem Begriff des «need-adapted treatment»: sich den Bedürfnissen des Patienten anpassen, um den Ausgangspunkt der psychotherapeutischen Option anzubieten, die dann im Gespräch mit dem Patienten und seiner Familie zur Entwicklung gebracht wird.
Die Psychotherapie der Psychose hat sich verändert und will sich anpassen an die Person des Patienten, die betroffen und bedroht ist. Negative Lebenserfahrungen und der Kampf um eine positive Identität macht diese Psychotherapie zu einer existenziellen Herausforderung (Gaetano Benedetti). Der Blick und achtsame Präsenz des Psychotherapeuten bilden das wesentliche Element des Wachstumsprozesses des kontinuierlichen Fühlens der eigenen Existenz.